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Kaffee, Kuchen, Glückseligkeit, all inclusive


Steirischer HERBST. Start mit dem Theater im Bahnhof und dem deutschen Frauenteam "She She Pop".
Stadtluft macht frei!" Auch wenn die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängige Parole, die Katrin Röggla in ihrer "herbst"-Eröffnungsrede in der List-Halle zitierte, inzwischen eher von Smogalarm abgelöst wird, liefert der urbane Mikrokosmos gesellschaftlicher Vielfalt immer noch mehr Zündkraft als die "Idiotie des Landlebens". Reizvoller Ausgangspunkt für ein Festival wider den Strich, das Intendant Peter Oswald zum Finale seiner Amtszeit mit zusammengeschnürtem 1,3 Millionen Euro Budget navigiert. Schließlich lauert die Katastrophe immer und überall. Während die einen im neoliberalen Zeitalter ein immer voller werdendes Boot auf die Wogen der Unzufriedenheit malen - das sich freilich, so Röggla, in den schrumpfenden Städten mehr und mehr leere -, klammern sich die anderen an Rettungsringe, um aus den Zonen verdichteten Zusammenlebens zu fliehen. Denn die Stadt bietet keine Sicherheit mehr, wie New Orleans gerade lehrt. Stadt- und Katastrophen-Geschichte gehen Hand in Hand, faszinieren und sei es "aus Sehnsucht nach einer kathartischen Erfahrung", meint Röggla.
Nicht ganz so in Graz, das als mittelgroße Metropole im geografischen Feld von "M-Orten", auf die sich das herbstliche Augenmerk heuer richtet, rangiert und im Ozean der Zeit als sanft rotierende Insel schwimmt. Liebenswert, aber unspektakulär. Ähnlich dem "herbst"-Programm. Freilich spürt man den Sparefroh. Schon beim licht besetzten Auftakt in der List-Halle mit Mittel-Liga-Politikern kurz vor der Landtagswahl durchflutete laues Interesse den Raum. Mit dem "herbst" ist es heute wie mit einer Wahl: Wenn man nichts Besseres vorhat, geht man hin. Im Klartext: Das Festival hat an Anziehung verloren, schrammt an (unkonventionellen) Erwartungen vorbei.
Dennoch strahlen manch kleine Juwelen mitunter mehr Charme aus als protzige Colliers. Und die Gemütlichkeit einer Paddelbootfahrt ersehnt sich der, der im tatsächlich überfüllten Boot Richtung Hoffnung kentert. Das Grazer Theater im Bahnhof ist Spezialist in Sachen Kreuzfahrt für jedermann. "Nicht einmal Hundescheiße" klingt nach urbaner Saubermacher-Aktion, entpuppt sich aber als Rasentheater an einem unmöglichen Ort. Im ersten Bürostock des City-Towers nehmen die Beobachter eines Schaufenster-Hörspiels Platz, um auf einen von Hecken und Ampeln umgrenzten Schmalspur-Park am Grieskai hinab zu blicken. Dort trudeln im Lauf des Geschehens vier Frauen mit Einkaufssackerln und Eigenwilligkeiten zu einem filmischen "Porträt meiner Generation" ein. Stadtbewohnerinnen Ende 30 outen sich, von Mordfantasien an entwicklungsgeschichtlich im Konkurrenzkrieg befindlichen Sexualtätern über Stewardessen bis zu Sammlerinnen von Tonga-Insel-Keulen. Schräge Figuren präsentiert Helmut Köpping in Pia Hierzeggers Schau für Voyeure. Besonderer Kick in dem mit Kaffee und Kuchen ausgestatteten Hochstand sind irritierte Reaktionen zufälliger Passanten. Allerdings scheren sich die wenigsten ums seltsame Treiben inmitten einer künstlichen Camping-Landschaft. Den vier Schauspielerinnen mit ihren skurrilen Lebensgeschichten gelingt eine sympathische Selbstdarstellung, die nur unterhalten oder wenigstens vor Depressionen retten will.
Postmoderne und Postjugendliche haben heuer das Sagen auf der Bühne. "She She Pop" verwandelt den Grazer Dom im Berg in ein "Lagerfeuer"-Camp von Realitätsflüchtern. Das deutsche Frauenteam surft in der Performancereihe "Bodies - Cities - Subjects" seicht auf neuer alter Welle durchs Illusionenmeer der jüngeren Generation und landet rückwärts gerichtet an Ufern von Blumenkindern und 68er-Revolutionären. Mitmach-Theater, das trotz bemühter Interaktion an der gründlich deutschen Organisation von Glückseligkeit scheiterte. Zuweilen erinnert die verordnete Zwangsgemeinschaft an lächerliche Animationsprogramme in All-Inclusive-Clubs, mit dem Unterschied, dass der Selbsterfahrungstrip bei der Premiere ohne Publikumsresonanz verlief. Stadt ist eben nicht gleich Stadt. Und Graz ist verwöhnt, auch abseits des künstlerischen Mainstreams.

ELISABETH WILLGRUBER

erschienen in:
Die Presse, 03.10.2005