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Verdatterte Verstädterte
Das "Theater im Bahnhof" punktet mit Süffisanz, "She She Pop" setzen sich ans Feuer


Graz - Am Grazer Mur-Ufer, dort, wo die Brückenkopfgasse in den Grieskai einmündet, liegt ein Volleyballfeld-großer Grünstreifen, der von einem mächtigen Lindenbaum überschattet wird: ein vom Verkehr umspülter, von schäbigen Rabatten gesäumter Nichtort, dessen saftiges Herbstgras gewiss die umwohnenden Möpse und Dachshunde glücklich urinierend zu schätzen wissen. Das "Theater im Bahnhof", ein umtriebiges Freundschaftskonsortium der darstellenden Künste, hat auf dieses stadtplanerisch überformte Hundeklosett eine Art Sichtblende geöffnet. Im Auftrag des steirischen herbstes, versteht sich.
Peter Oswalds Themenparkwächter haben sich für heuer der Bearbeitung der Urbanitätsdebatte zugewandt: das schönste Beet im Diskursgarten. Und siehe da: Wie ein fröhliches Kläranlagenrauschen schießen sämtliche Beschaulichkeitswörter einer streng reflexiv gefassten Stadtbilderneuerung quer durch den träge murmelnden Festivalbach. Denn wo unsereins bloß Häuser sieht, bestenfalls die Funktionen bestimmt, die man jenen zuordnen kann (in Gries: Kebab essen, Underberg trinken, einen maghrebinischen Stützstrumpf kaufen) winkt die Urbanismustheorie wie wild mit allen Zaunlatten eines angeblich manifesten Bedeutungswandels.

Netzwerk-Zauber "Bodies-Cities-Subjects" nennt sich der Titelentwurf zu einer Reihe von herbst-Veranstaltungen, die man unbedingt "performativ" nennen muss, um nicht von vornherein als fettsteißiger Platzsitzer verunglimpft zu werden. Städte sind heute "Netzwerke". Sie tragen die entsprechenden Kartografien wie grobmaschige Hemden am moribunden, sandsteinernen Leib. Wo Getränkemärkte den sozial Deklassierten die Feierabenddröhnung bescheren, feiern die einschlägig Nachdenkenden die, Zitat: "Eventisierung der postindustriellen Stadt".
Es gehört zu den großen Vorzügen der "minimalistischen Bürgerperformance" Nicht einmal Hundescheiße, auf das Elend dieses Allerweltsgeschwätzes zwanglos hinzuweisen.
Während die Gäste des TiB hinter einer Fensterfront im gegenüberliegenden Citytower ausharren, von Dialogbrocken aus der Konserve umfächelt, stehen ein paar Enddreißigerinnen im nahen Park, mit Billa-Säcken wie mit Munitionstaschen bewaffnet, und quälen sich ganz ungeniert karaokemäßig durch eine gesucht peinliche Verlautbarungsprosa. Eine Dame (Eva Maria Hofer) möchte eine Materialsammlung über "meine Generation" anlegen.
Aus den je wechselnden Verhörsituationen im Beserlpark entstehen regelrechte Diskurse über Zuchtauswahl und Arterhaltung, über Flugangst und Individualtourismus. Das besitzt den räudigen Charme einer studentisch angeregten Selbsthilfegruppendiskussion. Spielt hübsch mit dem Staunen der Passanten, die die vier (teils singenden) Damen in ihren Liegestühlen wohl einem Asyl entsprungen wähnen. Eine bekömmliche Petitesse in der Regie von Helmut Köpping. Die sauren Früchte des urban vernetzten Festivalzirkus gab es Samstagabend im Dom im Berg zu verkosten: Dort regte das Mitmachtheater unseligen Angedenkens sein kalkbestaubtes Haupt. Die Performancetruppe "She She Pop", ein mehrköpfiges Produkt des nimmermüden Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, lud zum problembeladenen Zusammensitzen rund um ein Lagerfeuer.
Offenbar, weil in Compton/ Los Angeles und in anderen urbanen Krisenzonen die Tonnen dampfen, wurden die auf Bierkisten ausruhenden Zuschauer von einer Gruppe von Animateuren zum problembewussten Ins-Feuer-Starren angestiftet. Jeder dürfe alles sagen, wurde den Urbanpfadfindern beschieden. Die Frage lautete: "Wo wollen wir hin?" Hinauf in die vertikale Zukunftsstadt? Hinein in die begrifflich verwahrlosten Diskursbezirke der nimmermüden Kulturzulieferer? Gott sei Dank ist Graz dann doch größer, als seine "herbst"-Veranstaltungen glauben machen. DER STANDARD, Printausgabe vom 3.10.2005

Ronald Pohl

erschienen in:
Der Standard, 02. Oktober 2005