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Das Ohr ist der Weg
Peter Ablingers Stadtoper in Graz uraufgeführt


Damaskus mag überall sein, auch in den Feldern östlich von Wien nahe der ungarischen Grenze. Dort, inmitten des hoch stehenden Getreides, während der heiße Sommerwind die reifen Ähren sanft bewegte, im Roggen anders raschelnd als im Weizen, hatte der Komponist Peter Ablinger vor zwanzig Jahren sein diesbezügliches Erlebnis: er vernahm "DAS RAUSCHEN". Ob er dabei ergriffen auf dem Rücken lag wie Paulus in Caravaggios Bild, entzieht sich unserer Kenntnis. Auf jeden Fall war diese Erfahrung nach eigenem Bekunden entscheidend für sein weiteres Schaffen der kristallen geschärften Wahrnehmung. Und sie bleibt es auch für "Opera / Werke", seine "Stadtoper Graz in sieben Akten" und mehreren Tagen, die soeben im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst uraufgeführt wurde.
Mit diesem Projekt kehrt der 1959 im oberösterreichischen Schwanenstadt geborene Wahlberliner in die Stadt seines künstlerischen Ursprungs zurück. Denn noch bevor er in Wien bei Roman Haubenstock-Ramati studierte, war er als Pianist am Jazzinstitut der Grazer Musikhochschule inskribiert und besuchte Kompositionskurse bei Gösta Neuwirth. "Opera / Werke" hebt schon im Titel auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ab und rekurriert gleichzeitig auf die spartenübergreifende Eigenart des Gesamtkunstwerks Oper. Im Programmheft wird dies in einer etwas hochgezwirbelten Sprache dargelegt, die dem Anspruch Ablingers auf das "absichtsvoll Kunst-lose" seiner Musik merkwürdig widerspricht.

Aufdröselungen und . . .

Das propagierte "entschiedene und emphatische Auf-den-Kopf-Stellen des gesamten Konglomerats Oper, die vollkommene Umwertung aller Werte" stellt sich in der Praxis als Aufdröselung der elementaren Bausteine der Gattung in sieben voneinander unabhängige und dennoch miteinander vernetzte "Akte" dar. Dabei führt Ablinger sein Publikum in neue Erlebnisfelder. Für die Teile V, "Die Bestuhlung" und VI, "Die Kulisse" bedient er sich dabei der die Alltagswahrnehmung überhöhenden Ästhetik John Cages: irgendwo in der Stadt, Schauplätze täglich wechselnd, stehen sechs Stuhlreihen mit jeweils sechs Sitzen. Oder zwei parallele weiße Wände. Keine Kontrolle, keine Absicht. Jeder hört demokratisch sein eigenes Œuvre, sieht seinen eigenen Ausschnitt.
Ein Projekt für Stadtwanderer. Zum I. Akt, "Der Gesang" geht es ins "ESC im labor" in der Jakoministraße. Gesang bedeutet hier: akustische Postkartengrüße aus Graz - Verkehrslärm von Straßen, Plätzen und vom Grazer Schlossberg aus, Geräuschcluster in Fußgängerzonen und Kneipen, Sportplätzen, Kinder- und Heimgärten. Eine drei Wochen lang ganztägig geöffnete Hörbibliothek, auf 36 Tische und ebenso viele CDs verteilt: akustische Stadtvermessung. Das Ohr ist der Weg.
Möglichkeiten der Umsetzung solcher Hörerfahrungen lehrt uns die in Hamburg lebende japanische Schriftstellerin Yoko Tawada in Akt III, "Das Libretto" (zu lesen zu Hause, oder wo immer). Während auf der linken Seite eine "genmanipulierte, griechisch anmutende, pseudojapanische Mythologie, die in Graz spielt" (Tawada) zu erfahren ist, gewährt die rechte hochpoetische verbale Nachbildungen der Geräuschenzyklopädie Ablingers ganz im Sinne von dessen "Geräuschheft 'Weiß / Weißlich‘" - Musik in Prosaform, aus der Mitte der achtziger Jahre.

. . . Übermalungen

Auch das Grazer Opernhaus spielt mit: Im vierten Akt, "Die Handlung", der Spindel des Projekts, werden zwei Samstage lang Gruppen von je sechs Besuchern zu einer konzentrierten, etwa zehnminütigen Performance auf die Bühne gebeten. Vor eine Kulissenflucht, in deren Mitte Tonbandmaschinen eine Gasse bilden. Diese addieren, nacheinander eingeschaltet, Rauschflächen wie Grundfarben zum alles vereinigenden Weiss. Von Farbe zu Licht wie bei William Turner.
Schwerpunkte sind die beiden Aufführungen draußen in der Helmut-List-Halle: Zunächst der zweite Akt, "Das Orchester", ein Konzert für Stadtklänge und 60 Instrumentalisten in Brucknerlänge: zehn Tableaus und elf Intermezzi, wobei zugespielte akustische Schnappschüsse aus "Der Gesang" vom Orchester recreation unter Sian Edwards mit hingebungsvollem Einsatz quasi be- und übermalt werden.
Und als zweiter Abend "Das Publikum", der siebte und letzte Akt, der die Fäden zusammenknüpft. Ablingers Klangskulpturen - live von zwei Kammerensembles sowie zwei automatischen Pianolas geformt - stellen sich Edgar Honetschlägers Film "The Audience", frappanter, auf zwei Leinwände projizierter Seh-Musik vor allem mit Städteszenen aus aller Welt. Das Publikum, dem hier neue optische wie akustische Wahrnehmungsschichten eröffnet werden sollen, bleibt ob des Überangebots freilich teilweise geplättet zurück.
Bestechend das insgesamt hohe Niveau des Events. Ob dieser praktikable Lösungen für die Zukunft der Oper anbietet, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist Peter Ablingers Versuch einer akustischen Reinspülung in unserer Zeit des heillosen öffentlichen Muzak-Gedudels willkommen. Seine Ästhetik des Rauschens als Nirvana des Klangs könnte ihm freilich die gelegentliche Traumerscheinung Palestrinas einbringen, des Meisters der göttlichen Konsonanz, der ihn wie der Herr den Saulus fragen mag: "Warum verfolgst du mich?"

GERHARD PERSCHÉ

erschienen in:
Sueddeutsche, 19.10.05